Ein Chagall-Fenster erzählt

Seit vielen Jahren hänge ich in der Kirche St. Stephan in Mainz. Morgens freue ich mich über die aufgehende Sonne, die durch mich hindurch scheint. Denn dann tauche ich die ganze Kirche in meine schöne blaue Farbe.
So habe ich es auch vor ein paar Tagen getan, als mich 59 Schülerinnen und Schüler vom Gymnasium Nackenheim besuchten. Als sie in die Kirche eintraten, konnte ich richtig sehen, wie die Kinder aus der 5. Klasse den Atem anhielten. Sie staunten über das tiefe Blau, in dem ich von Marc Chagall bemalt wurde. Und sie staunten, wie diese Farbe die ganze Kirche erfüllt. Ein Mädchen mit Namen Elena hörte ich sagen, wie spannend sie mein bläuliches Licht fände. Da habe ich mich gefreut.

Die liebe Führerin, die die Kinder begleitete, erzählte ihnen, wie ich und die anderen Fenster in die Kirche kamen. Die Kinder, so konnte ich beobachten, hörten aufmerksam zu, wie Pfarrer Klaus Mayer immer wieder Marc Chagall in Frankreich besuchte und ihn um Fenster für seine Pfarrkirche bat. Wie schön, dass Chagall den intensiven Bitte nachgab. So bin ich und all die anderen Fenster zur Welt gekommen.

Als sich die Kinder im Chorraum auf den Boden setzten, hörte ich, wie die Kinder voll Freude entdeckten, was auf den Fenstern meiner Schwester und Brüder abgebildet war. Die einen entdeckten einen Paradiesgarten, die anderen einen fliegenden Engel und wieder andere einen Hahn. Mia Sophie wisperte ihrer Nachbarin zu, wie schön sie das fände, dass jeder etwas anderes auf uns Fenstern finden könne.

Nach dem Besuch bei meinen Brüdern und Schwestern und mir in der Kirche hörte ich die Kinder wenig später, wie sie die steilen Treppen in den Glockenturm hinaufstiegen. Die eine juchzte voller Freude, weil es immer höher hinauf ging. Maja fand das zum Beispiel total cool. Einem anderen wurde je höher je unheimlicher im Angesicht der steilen Treppe. Als alle wieder wohlbehalten vom Glockenturm neben der Kirche standen, war ich ganz erleichtert.

Von Ferne hörte ich noch die fröhlichen Stimmen der Kinder, als sie auf dem Spielplatz ganz in der Nähe die Rutsche hinuntersausten oder die Wiese hinabrollten. Wie schön, dass sie mich besucht hatten und im Blau meiner Farbe „gebadet“ hatten. Dafür hänge ich gerne in der Kirche St. Stephan in Mainz, um Menschenkinder mit meiner göttlichen Farbe zu umgeben.

(von Jens Dölschner, Schulseelsorger)

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